Stellungnahme zur Wohnpflicht in Erstaufnahmeeinrichtungen für LSBTI*-Geflüchtete
Die Pflicht von Asylsuchenden, in der zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen, wurde mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (sogenanntes Geordnete-Rückkehr-Gesetz, in Kraft getreten am 21.08.2019) massiv ausgeweitet.Gemäß §47 Abs.1 AsylG müssen Asylsuchende nunmehr bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag, im Falle einer Ablehnung bis zur Ausreise oder Abschiebung in der Erstaufnahmeeinrichtung wohnen. Die Wohnpflicht besteht längstens für 18 Monate. In bestimmten Fällen kann sie jedoch auch darüber hinaus unbefristet verlängert werden. Ausnahmen sieht das Gesetz bisher lediglich für Familien mit minderjährigen, ledigen Kindern vor. Bei diesen entfällt die Wohnpflicht nach 6 Monaten.
Die restriktive Vorschrift wurde auf Betreiben des Bundesrates in den Gesetzesentwurf aufgenommen (BR-Drucksache, 179/1/19, S.38 ff.). Die zuständigen Ausschüsse betonen, dass die Verlängerung der Wohnpflicht unter anderem wichtig sei, um „die mit der Verteilung auf die Kommunen faktischverbundene Aufenthaltsverfestigung (vor allem mehr Kontakt mit den Einheimischen, kleinere Unterkünfte) zu verhindern“ (ebenda).
Eindeutig formuliertes Ziel der Gesetzesänderung ist somit die soziale Exklusion der Betroffenen.
Mit der Wohnpflicht in der Erstaufnahmeeinrichtung sind starke Einschränkungen verbunden. So unterliegen die Betroffenen während dieser Zeit nach §56 Abs.1AsylG der Residenzpflicht. Nach §61 Abs.1 AsylG gilt für die ersten 9 Monate der Wohnpflicht ein absolutes Arbeitsverbot. Darüber hinaus findet nach §3Abs.2 AsylbLG während der Wohnpflicht das Sachleistungsprinzip mit Vollverpflegung, Kleidungsgutscheinen und Taschengeld Anwendung.
Die Fachstelle für LSBTI*-Geflüchtete fordert den Berliner Senat auf, eine frühzeitige Zuweisung von LSBTI*-Geflüchteten in die Gemeinschaftsunterkunft sicherzustellen. Nur so kann dem besonderen Schutzbedarf im Sinne des Art. 21 der EU-Aufnahme-RL (RL 2013/33/EU) von LSBTI*- Geflüchteten angemessen entsprochen werden.
1. Die Wohnpflicht in der Erstaufnahmeeinrichtung steht einer frühzeitigen gesellschaftlichen Integration der Betroffenen entgegen.
Durch die Wohnpflicht in der Erstaufnahmeeinrichtung soll die soziale Integration der Betroffenen verhindert werden. Für die betroffenen LSBTI*-Geflüchteten wiederholt sich damit die Erfahrung der gesellschaftlichen Isolation und sozialen Ausgrenzung. Dies birgt die Gefahr von(Re-)Traumatisierungen und der Verstärkung bzw. Chronifizierung bereits vorhandener psychischer Erkrankungen.
2.Die verlängerte Wohnpflicht widerspricht dem vom Berliner Senat im Rahmen des Gesamtkonzepts Integration und Partizipation Geflüchteter von Dezember 2018 betonten besonderen Schutzbedarf LSBTI*-Geflüchteter.Der Berliner Senat spricht sich in seinem – im Rahmen des Berliner Modells für die Unterstützung von LSBTI*-Geflüchteten – entwickelten 7-Punkte-Plan für eine schnelle Vermittlung der Betroffenen aus. Er betont, die Handlungskompetenzen der Betroffenen stärken zu wollen. Diese Ziele werden durch die Gesetzesänderung und die veränderte Verwaltungspraxis konterkariert.Während der Wohnpflicht in der Erstaufnahmeeinrichtung ist das Führen eines selbstbestimmten Lebens aufgrund der oben beschriebenen Restriktionen geradenicht möglich. Die betroffenen LSBTI*-Geflüchteten werden in ihrer Handlungskompetenz eingeschränkt, nicht bestärkt.
3.Die Unterbringung neu ankommender LSBTI*-Geflüchteter in der queeren Unter-kunft Berlin ist nicht mehr möglich.
Angesichts des beschränkten Platzkontingents in der Erstaufnahmeeinrichtung der queeren Unterkunft führt die Wohnpflicht dazu, dass in nächster Zukunft keine neuen LSBTI*-Geflüchteten mehr aufgenommen werden können. Das führt zu dem paradoxen Umstand, dass in der queeren Unterkunft zwar Plätze in der Gemeinschaftsunterkunft leer stehen, LSBTI*-Personen aber auf andere Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt werden müssen. Dem besonderen Schutzbedarf von LSBTI*-Personen wird damit nicht mehr entsprochen.
4.Die erweiterte Wohnpflicht widerspricht dem in § 44 AsylG neu eingefügten Absatz 2a.
Nach § 44 Abs.2a AsylG sollen die Länder geeignete Maßnahmen treffen, um beider Unterbringung Asylsuchender den Schutz von Frauen und schutzbedürftigen Personen zu gewährleisten. Die Gesetzesbegründung geht dabei ausdrücklich davon aus, dass LSBTI*-Geflüchtete besonders schutzbedürftig sind (BT-Drucksache19/10706, S. 16). Zwar hat das Land Berlin durch die Einrichtung der queeren Unterkunft grundsätzlich Maßnahmen im Sinne dieser Vorschrift getroffen. Da in nächster Zukunft in der Erstaufnahme der queeren Unterkunft keine neuen LSBTI*-Geflüchteten mehr aufgenommen werden können, werden diese Maßnahmen jedoch de facto unwirksam. Dem ist abzuhelfen.
5.Für LSBTI*- Geflüchtete ist entsprechend der Vorschrift für Familien mit minderjährigen Kindern eine Ausnahme von der verlängerten Wohnpflicht zu machen.§47 Abs.1 AsylG sieht eine Ausnahme von der verlängerten Wohnpflicht für Familien mit ledigen, minderjährigen Kindern vor. Damit wird deutlich, dass der Gesetzgebende durchaus gesehen hat, dass die Verlängerung der Wohnpflicht für besonders schutzbedürftige Personengruppen eine besondere Härte darstellt.Hinsichtlich des besonderen Schutzbedarfs ist die Situation von LSBTI*-Geflüchteten mit der von Familien mit minderjährigen Kindern vergleichbar. Auch für LSBTI*-Geflüchtete muss daher eine frühzeitige Zuweisung in die Gemeinschaftsunterkunft erfolgen.
6.Der Senat sollte § 49 Abs. 2 AsylG anwenden, um eine frühzeitige Zuweisung vonLSBTI*-Geflüchteten in die Gemeinschaftsunterkunft sicherzustellen. §49 Abs.2 AsylG sieht vor, dass die Wohnpflicht in der Erstaufnahmeeinrichtung insbesondere zur Gewährleistung der Unterbringung und Verteilung beendet werden kann. Die Vorschrift eröffnet den Ländern daher eine eigene Entscheidungskompetenz. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus, dass durch §49 Absatz 2 AsylG sichergestellt werden soll, dass Aufnahmeeinrichtungen nicht überlastet werden. So soll die Verpflichtung, in der Aufnahmeeinrichtung zuwohnen, insbesondere beendet werden können, wenn andernfalls eine Erschöpfung oder Überlastung der Kapazitäten der Einrichtung zu befürchten wäre (BT-Drucksache19/10706, S. 16). Da eine solche Erschöpfung der Kapazitäten der queeren Unterkunft in Kürze zu erwarten ist, sollte der Senat von § 49 Abs. 2 AsylG Gebrauch machen.